Transdigitale Eisenbahn

Ein Hoch auf die Introversion

Der Drinni in dir

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Laut und leise, aufgeschlossen und zurückgezogen, extro- und introvertiert: Jeder Mensch trägt beide Seiten in sich. Manchmal ist jedoch der richtige Zeitpunkt gekommen, um den Drinni in dir zu feiern und fest zu umarmen.

Foto: Paola Cermak

Katja* mag Menschen. Also so allgemein, wenn es sich um die gesichtslose Masse „Menschheit“ dreht, würde sie sich schon als Philanthropin bezeichnen. Nur dürfen es nicht zu viele Menschen auf einmal sein. Oder zu laute Menschen. Oder unfreundliche. Eigentlich sind ihr kleine Gruppen mit sehr guten Freund*innen in einem definierten zeitlichen und räumlichen Rahmen am liebsten. Also sowas wie „Hey Katja, ich würde Mittwochabend gerne mit dir einen Film schauen und ein Weinchen trinken, hast du Lust?“. Nicht „Bim-bam-boom, hier bin ich, was geht, Katja kommste mit auf die Piste?“.

Drinnis und Draußis

Katja ist häufig ein Drinni. Ein Typ von Mensch, dem die Band Tokio Hotel zu größerer Bekanntheit verholfen hat. Bill und Tom haben so ca. 2005 in einer ihrer Zwillings-Speed-Konversationen Drinnis von Draußis unterschieden: „Wir sind nämlich totale Drinnis – das ist unser Wort für Leute, die unberührte Natur einfach nur hassen.“ Ergo, sie sind lieber in geschlossenen Räumen und für sich. So weit würde Katja jetzt nicht gehen, sich als Naturhasserin zu bezeichnen. Im Gegenteil, sie findet im Wald zu sein beruhigend.

Katja würde die Kategorien auch eher so definieren: Menschen, die gerne für sich sind und auch gut allein Zeit verbringen können (= Drinnis) und Menschen, die die meiste Zeit gerne unter Leuten sind und sich mit viel Trubel umgeben (= Draußis). Im herkömmlichen Sinn gab es diese Kategorien natürlich schon mit den Begriffen introvertiert vs. extrovertiert. Jedoch machen es Drinni und Draußi irgendwie anschaulicher, findet zumindest Katja.

Sozialer Tango

Für Drinnis ist soziale Interkation mit Menschen außerhalb ihrer Social Bubble keine Kleinigkeit. Terminvereinbarungen per Telefon, Beratungsgespräche (ob Friseur*in oder Möbelgeschäft ist hier Jacke wie Hose) oder der Endgegner Networking-Events, das Gefühl ist immer das selbe: wie eine Ameise unter dem Brennglas tanzt Katja von einer Formulierung zur nächsten und versucht sich irgendwie durch die Konversation zu hangeln.

Klar, mit der Zeit stumpfst du da ab. Mündliche Prüfungen, Bewerbungsgespräche, Vorträge schleifen den Drinni in dir. Alles auch irgendwie machbar, konnte sich Katja schon draufschaffen – solange der Rahmen gesetzt und die Erwartungshaltungen klar sind. Aber wenn man sie nach ihrer Vorstellung eines idealen Austauschs fragt, würde Katja natürlich keine der oben genannten Szenarien beschreiben. Ruhe, vertraute Menschen, kleiner Kreis, gute Gespräche, das sind Begegnungen, auf die sie sich freut. Sie braucht auch mehr Zeit für sich, sozusagen Quality-Alone-Time, um sich nach sozialen Interaktionen wieder aufzuladen.

Und damit ist sie nicht allein. Jeder Mensch trägt introvertierte und extrovertierte Anteile in sich. Laut Patrick Hundt von introviertiert.org überwiegen bei rund 20% der Menschen die introvertierten Anteile so stark, dass sie tatsächlich als Introvertierte zu bezeichnen sind. Katja glaubt, dass der Anteil unter Frauen bzw. weiblich gelesenen Menschen noch höher sein dürfte, Erziehung und so. Nicht zu laut sein, nicht zu sehr auffallen, sonst wird man schnell für das forsche Auftreten abgestraft. Sie unterdrücken ihre extrovertierten Anteile. Manche Drinnis sind auch von der Gesellschaft erschaffen worden.

Drinnis in der Arbeitswelt

Es ist jedoch leider nicht so, als ob die Gesellschaft so richtig Platz für Drinnis hätte. Das Arbeitsleben ist beispielsweise nicht auf Introvertierte ausgelegt. In allen Stellenanzeigen wird nach „kommunikationsstarken Macher*innen“ gesucht. Viel zu oft verwechseln wir hier Lautstärke mit Kompetenz. Wer Beförderungen oder Gehaltserhöhungen möchte, muss sie sich erkämpfen, mit seinen oder ihren Erfolgen prahlen und die Vorgesetzten überzeugen. Nichts liegt Drinnis ferner. Sie werden im Arbeitsleben leicht übersehen, halten durch ihre ruhige und zuverlässige Art den Laden aber gleichzeitig am Laufen. Irgendwie unfair. Findet auch Taraneh Taheri und hat für das Magazin Neue Narrative in dem schönen Artikel „Warum Introvertierte mehr Anerkennung verdienen“ die Trommel für die Drinnis der Arbeitswelt geschlagen.

Die Heizdecke für Introvertierte

Und auch im Podcast-Universum haben die leisen Vertreter*innen der Gattung Mensch jetzt ihre kleine Insel: Drinnies, der Podcast aus der Komfortzone. Giulia Becker und Chris Sommer besprechen hier die drängenden Probleme eines stressigen Introvertierten-Alltags: wie mit fremden Handwerker*innen in der Wohnung umgehen, wann grüßen, wenn jemand entgegenkommt, wie Menschen mit Essensresten im Gesicht höflich darauf aufmerksam machen… alles Drinni-Dauerbrenner, denen sich endlich mal gewidmet wird. Aktuell sind Giulia und Chris mit diesem Format sogar für den Deutschen Podcastpreis nominiert. Die Heizdecke unter den Podcasts, einfach schön, lustig und warm, findet Katja.

Wenn ihr euch jetzt denkt: „Hm, irgendwie fühle ich mich angesprochen, gibt’s denn nen Introvertierten-Test, um zu schauen, ob ich auch in den Drinni-Club gehöre?“. Bitte sehr, hier entlang: Patrick hat auf introvertiert.org 92 Eigenschaften von Introvertierten zusammengestellt, die dir eine gute Tendenz geben, ob du zu dieser Sorte Mensch gehörst. Das ist keine Wissenschaft, sondern soll dir nur eine Orientierung geben, wenn du sie denn brauchen solltest.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Drinni zu sein ist etwas Schönes, manchmal sogar eine Art Superpower. Introvertierte können beispielsweise gut tiefe zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen und lange pflegen, sie sind empathisch und meist tolle Freund*innen. Das hier ist nur ein Appell, auf eure Bedürfnisse zu achten. Gönnt euch die Ruhe, die ihr braucht. Sagt Verabredungen ab, wenn sie euch zu viel werden. Seid ehrlich zu euch selbst und lasst euch nicht vom Alltag überrollen.

So, jetzt ist aber auch mal gut – Katja muss ihre sozialen Akkus wieder aufladen.

 

*Wir alle wissen, wer Katja eigentlich ist. Aber ein echter Drinni hat keinen Bock, so einen Text in der Ich-Form zu schreiben.

Zum Weiterlesen und -hören:

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