New Work in Real Life
Britta Scharfenberger Britta Scharfenberger 18.01.2021 Digitale Rebellen, Werkzeugkasten
Theoretisch können Konzepte für Neues Arbeiten schnell überzeugen, in der Praxis verursachen sie häufig noch Fragezeichen. Da hilft nur eins: sich Inspiration bei denen holen, die schon mitten in der Umsetzung stecken. Bei "New Work in Real Life" schauen wir daher Pionier*innen des Neuen Arbeitens in die Kochtöpfe. Heute geht es um Holacracy bei FREITAG.
Holacracy bzw. Holokratie ist eine Weiterentwicklung der Soziokratie und wurde 2007 von Brian Robertson und Tom Thomison ins Leben gerufen. Die Holokratie ist ein Betriebssystem für Unternehmen, die die klassische Hierarchie durch eine dezentrale Verteilung von Verantwortung ersetzen möchten. Statt die Entscheidungsbefugnisse auf einen kleinen Managementzirkel zu beschränken, wird hier auf eine kompetenzbasierte Handlungsbefugnis gesetzt.
Holacracy begreift Unternehmen als Ansammlung von Handlungen, die dem Unternehmenszweck dienen. Es werden Rollen definiert, die mit ihren eigenen Pflichten und Entscheidungsfreiheiten ausgestattet sind (im Holacracy-Sprech: Accountabilities & Domains) und für die Transparenz ihres Handelns sorgen müssen. Eine Person kann dabei mehrere Rollen innehaben. Die einzelnen Rollen werden in Kreisen organisiert, ein Kreis besteht dabei aus thematisch zusammenhängenden Rollen. Kreise und Rollen haben jeweils einen Purpose (Zweck), der sich am übergeordneten Purpose des Unternehmens orientiert. Somit entsteht eine kompetenzbasierte Hierarchie, die Spezialist*innen können also in ihrem Fachbereich eigenverantwortlich agieren.
Holacracy ist sehr stark formalisiert und daher nicht ganz einfach einzuführen. Die Ausgestaltung der Rollen, der Informationsfluss zwischen den Kreisen und auch der Ablauf von Meetings folgen ganz klaren Regeln. Robertsons Firma vertreibt aus diesem Grund sogar eine unterstützende Software und zertifiziert Holacracy-Coaches. Gleichzeitig ist die Holokratie jedoch sehr flexibel und kann immer wieder den aktuellen Bedürfnissen in den Teams angepasst werden. Es folgt eine kurze Übersicht über die wichtigsten Bausteine der Holokratie.
„Die Holacracy Verfassung dokumentiert die wesentlichen Regeln, die Struktur und die Prozesse des ‚Betriebssystems‘ Holacracy für die Führung und Verwaltung einer Organisation.“ So beginnt ein sehr langes Dokument auf Github, die deutsche Übersetzung der Verfassung ist dort frei zugänglich. Hier wird detailliert beschrieben, wie Rollen definiert, Kreisstrukturen ausgearbeitet und der Informationsfluss zwischen den Kreisen aufrechterhalten werden sollen. Ein Wort, das häufiger auftaucht, ist die „Spannung“, damit sind vor allem Bedenken oder Einwände gemeint. In der Holokratie wird durch das Konsent-Verfahren entschieden, d. h. es wird nach Einwänden gegen einen Vorschlag gefragt und diese werden dann auf ihre Statthaftigkeit geprüft. Auch hierfür gibt es – keine Überraschung – ganz klare Regeln. Desweiteren beschreibt die Verfassung die zwei wichtigsten Prozesse der Holokratie.
Hierbei handelt es sich knapp gesagt um die Verwaltung des eigenen Systems. Wenn Kreise anders geschnitten werden sollen oder Rollen Kompetenzen abgeben oder dazu erhalten sollen, muss dies in Governance-Meetings geschehen. Die Agenda dieser Meetings folgt einem genauen Protokoll, auch die Antworten sind häufig standardisiert. Ziel ist es, die Möglichkeiten in Diskussionen abzubiegen stark zu minimieren und persönliche Befindlichkeiten außen vor zu lassen. Bei Einwänden soll sich bevorzugt auf die Verfassung bezogen werden und die darin festgehaltenen Regeln als Argumentationsgrundlage genutzt werden, ähnlich wie bei Gericht.
Die operativen Themen eines Kreises finden ihre Heimat in den Tactical Meetings. Hier geht es rein ums Tagesgeschäft, die Rollen geben Updates über ihre Aufgaben und Entscheidungen. Mittels einer Checkliste wird der Status aller Rollen abgefragt, über Metriken berichtet und schließlich die Möglichkeit gegeben, Spannungen zu äußern. Ziel der Tactical Meetings ist es, Transparenz zu schaffen und Abhängigkeiten klar zu kommunizieren.
FREITAG ist ein Schweizer Unternehmen, das Taschen und Accessoires aus gebrauchten LKW-Planen upcycelt und auch Kleidung aus einem eigens entwickelten, nachhaltigen Stoff herstellt. Im Fokus steht die Kreislaufwirtschaft. Gegründet wurde das Unternehmen 1993 von den Brüdern Markus und Daniel Freitag, mittlerweile ist es auf über 200 Mitarbeiter*innen angewachsen.
„In der Geschäftsleitung wurden oft Entscheidungen gefällt, ohne dass man dafür die kompetenteste Person war oder das kompetenteste Gremium.“
Pascal Dulex im MoTcast
Während dieses Wachstums hat sich die Organisationsstruktur erst hin zu einer klassischen Hierarchie mit fachlichen Silos entwickelt, inklusive der damit verbundenen Unannehmlichkeiten: lange Entscheidungswege und die Geschäftsleitung als Flaschenhals. Da die Freitag-Brüder jedoch keine klassischen Chefs sein wollten und auch die Angestellten eine gewisse Frustration durch mangelnde Entscheidungsfreiheiten empfanden, hat das Unternehmen 2015 einen ersten Schritt in die Selbstorganisation gewagt: Die Strukturen und Abläufe wurden in einem intuitiven Ansatz nach dem Vorbild einer Stadt organisiert.
Mit diesem Ansatz blieben jedoch etliche Fragen im operativen Geschäft offen, sodass 2016 dann der Sprung in die stärker formalisierte Holokratie folgte, wobei die Gründer weiterhin die Besitzer des Unternehmens sind.
Einige Strukturen aus der Zeit, in der das Unternehmen wie eine Stadt organisiert war, sind noch in ihren Grundzügen vorhanden. Bei diesem Ansatz wurde die Geschäftsleitung aufgelöst und ein gemeinsames Regelwerk geschaffen, mit statischen und auch hochdynamischen Anteilen. In Workshops mit den einzelnen Teams haben diese ihre „Gebäude“ der Stadt gestaltet, bis hin zu Modellen aus Karton.
„Wir haben die FREITAG-Stadt an die Wand gezeichnet und haben gesagt: wie man sich in den Gebäuden dieser Stadt organisiert, das kann auch ein bisschen unterschiedlich sein. Da ist vielleicht ein bisschen alpha auf dem Operations-Floor und ein bisschen beta in den Kommunikations- oder Entwicklungsteams.“
Daniel Freitag im Podcast How to Hack
Eine Vollversammlung auf dem zentralen „Marktplatz“ wurde als Element für Austausch, Transparenz und Planung konkreter Schritte etabliert. Themencluster aus den besprochenen Themen eines Jahres in der Geschäftsleitung wurden analysiert. Ab dem Stichtag zur Abschaffung der Geschäftsleitung wurde der Dienstagmorgen für diese Themen geblockt. Jeweils eines dieser Themencluster wurde jetzt immer dienstags auf dem Marktplatz verhandelt. Alle Mitarbeitenden konnten selbst entscheiden, ob ihre Teilnahme aus fachlicher Sicht bei den jeweils besprochenen Themenclustern notwendig sein würde. Die Teilnahmezahlen des Dienstagsmeetings haben sich sehr schnell eingependelt. Der Dienstagmorgen ist auch unter Holacracy geblieben. Zu fachspezifischen Themen werden nun allerdings die Rollen eingeladen, die zum verhandelten Thema am besten beraten können.
In der Stadtphase wurden unterschiedliche Organisationskulturen zugelassen, an den Schnittstellen zwischen den Teams hakte es daher oft. Viele Grundsatzdiskussionen waren nötig, um Klärung herbeizuführen. Es wurde offensichtlich, dass mehr Beteiligung und mehr Freiheit unterstützende Strukturen brauchen.
Der Wechsel des organisatorischen Betriebssystems hin zu Holacracy barg einige Herausforderungen. Die Mitarbeiter*innen auf ein komplett neues Bild einzuschwören verursachte Unsicherheiten und ungelöste Fragen, die erstmal ausgehalten werden mussten. Ohne ein bedingungsloses Commitment der zentralen Entscheidungsträger*innen hätte der Wechsel nicht gelingen können. Eine externe Agentur, die die Einführung begleitete, hat den Druck der Kritik und Meinungsverschiedenheiten genommen.
Die personengebundene Hierarchie wurde mit dem Übergang zu Holacracy durch eine fachliche Hierarchie ersetzt: kein*e Vorgesetzte*r konnte ab diesem Zeitpunkt mehr Aufgaben verteilen oder wieder entziehen. Klar definierte Aufgaben wurden Rollen zugewiesen, die konkrete Ausführung ihrer Aufgaben oblag der Rolle. Der einzige Einflussfaktor war somit die Besetzung der Rolle, Blockaden durch übergeordnete Hierarchiestufen waren nicht mehr möglich – ab jetzt waren Einwände nur auf Sachebene statthaft. War eine Entscheidung „save enough to try“, wurde ein Vertrauensvorschuss gewährt und die Entscheidung zugelassen. Durch die klar formulierten und dokumentierten Verantwortlichkeiten einer Rolle, konnte das Kollektiv die Rolleninhaber*innen auch besser in die Verantwortung nehmen und bei der Selbstführung unterstützen.
„Eine hierarchiefreie Organisation ist ziemlicher Quatsch. Die braucht es, damit Entscheidungen getroffen werden. Aber es gibt bei Holocracy keine persönlichen Hierarchien.“
Pascal Dulex im MoTcast
Holacracy hat eine eigene Terminologie, die anfangs etwas abschreckend wirkt. Als FREITAG diese Einstiegshürde genommen hatte, wurde der Prozess jedoch leichter. Im Unternehmen herrscht mittlerweile ein entspannter Umgang mit der holokratischen Terminologie, es wird nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Auch die Verfassung stellte für den Einstieg in das System eine gute Basis dar, auf sie wird aktuell jedoch nur noch selten im Alltag verwiesen und sie dient nur noch als unterstützender Hintergrund. Die Verfassung ist außerdem im Fluss, FREITAG hat einen eigenen Prozess zur Verfassungsänderung definiert. Mittlerweile können auch dynamische, große Umwälzungen der Kreisstrukturen während des laufenden Betriebs erfolgen.
Zur Budgetplanung wurde bei FREITAG anfangs ein 5-Quartalsansatz aus Beyond Budgeting entwickelt. Aktuell plant man in einem 3-Semester-Prozess: der Planungshorizont erstreckt sich über 1,5 Jahre, immer das nächste Semester wird scharf gestellt. Die Planung ist rollierend mit Prio-Projekten und Budgetreservierungen, die konkrete Besprechung von Ausgaben findet dann im Dienstagmorgen-Meeting statt.
Holacracy ist ein Betriebssystem für die Gesamtorganisation, die zwischenmenschlichen Bereiche werden dadurch explizit nicht abgedeckt. FREITAG experimentiert daher neben der Holokratie noch mit anderen Tools. Beispielsweise kam Beyond Leadership zur Vertrauensbildung zum Einsatz, Scrum in der Produktentwicklung, auch Design Thinking wird vereinzelt genutzt. Teilweise scheitert das Unternehmen auch am konsequenten Einsatz von Methoden, die Organisation lernt stetig dazu.
Die in Holacracy angelegte Trennung von Governance und Operativem Prozess – also von Organisationsentwicklung und Tagesgeschäft – hilft FREITAG dabei, ausufernde Diskussionen zu vermeiden. Die Holokratie ist für das Unternehmen ein gutes Werkzeug, um die verschiedenen Phasen eines wachsenden Unternehmens meistern zu können. Die Stabilität rührt dabei aus dem klar geregelten Prozess statt aus einer fixen Struktur. Baustellen können so vielfältiger und breiter bearbeitet werden.
„Holacracy bietet den Vorteil, dass die Weiterentwicklung der Organisation kontinuierlich, sehr geordnet und nach sehr klaren Spielregeln stattfindet – und allen Mitarbeitenden offen steht, nicht nur der Geschäftsführung.“
Daniel Freitag im Podcast How to Hack
FREITAG hat eine sehr heterogene Angestelltenschaft, sodass die Holokratie in der Organisation eine Feuerprobe war: von der Taschenfertigung bis zur Kreativabteilung ist eine große Spannweite an Fachwissen vorhanden. Der Schnitt in thematische Kreise und die Tactical Meetings zur Herstellung von Transparenz haben in diesem Setup große Vorteile. Die Kultur im Unternehmen war dabei von Anfang an empfänglich für Holacracy, es gab eine breite Zustimmung für das Konzept. Holacracy führte zu einer guten Zusammenarbeit über Kreisgrenzen hinweg, zu Solidarität und Offenheit.
„Holacracy ist nicht für jedes Unternehmen das Richtige, es ist eine Offerte. Wenn man Komplexität in den Griff kriegen will, braucht es auch in der Art, wie man sich organisiert eine gewisse Komplexität. Das Feedback, das ich von unseren Teams kriege: Es ist kompliziert, aber besser.“
Daniel Freitag im Podcast How to Hack
Die klare Ausarbeitung von Rollen inklusive Purpose & Accountabilities. Auch in einem selbstorganisierten Zweierteam macht es Sinn, ein gemeinsames Verständnis über die bestehenden Unternehmensbereiche und deren Aufgabenschnitt zu erarbeiten. So ist eindeutig, was von wem zu erwarten ist.
Wir haben auch eine verschlankte Form der Tactical Meetings eingeführt. Dabei gehen wir unsere Rollen Mitte des Monats in einer Checkliste durch und berichten uns gegenseitig über die Entwicklungen. Damit schaffen wir für uns Transparenz.
Wir versuchen uns aktuell auch an dem 3-Semester-Zyklus von FREITAG mit Planungshorizonten von einem halben Jahr und einer Bilanz nach 1,5 Jahren. Das gibt uns die Möglichkeit zu steuern, ohne in Selbstverwaltung zu ersticken.
Die Quellen für unseren Artikel sind diese tollen Beiträge und Gespräche, die wir für einen tieferen Einstieg in das Thema gerne empfehlen:
Beitrag zu Holacracy von Pascal Dulex auf dem Blog von FREITAG
MoTcast - Masters of Transformation Podcast, Ausgabe 82 mit Pascal Dulex und Ingo Stoll
Podcast How to Hack von Business Punk, Ausgabe 42 mit Daniel Freitag und Tijen Onaran
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hallo@transdigitale-eisenbahn.de.