Selbstreflexion, Teamreflexion, Metareflexion
Britta Scharfenberger Christoph Schmitt, Britta Scharfenberger 09.12.2020 Werkzeugkasten, Denkanstoß
Zurückzublicken und Erlebtes Revue passieren zu lassen ist nicht nur etwas für das Jahresende. Wir haben für uns eine berufliche und persönliche Reflexionsroutine entworfen, die uns das ganze Jahr über begleitet und unsere Weiterentwicklung als Team unterstützt.
Verspannungen sind lästig. Wenn der Nacken zieht, die Schulter schmerzt oder der Rücken zwickt, ist das häufig ein Alarmsignal des Körpers, der uns auf eine falsche Haltung oder zu wenig Bewegung aufmerksam macht. Oftmals werden die vermeintlichen Wehwehchen eine Weile ignoriert, doch wenn der Leidensdruck zu groß wird suchen wir doch fachärztliche Hilfe oder gönnen uns eine Massage. Und im Idealfall versuchen wir durch kleine Verhaltensänderungen dazu beizutragen, dass die Blockaden nicht so schnell wiederkommen.
Aber wie läuft das bei zwischenmenschlichen Verspannungen in beruflichen Teams? Wirklich auf dem Schirm haben wir diese eher nicht. In den meisten Unternehmen gibt es keine Plattform, die ausschließlich für Teambefindlichkeiten reserviert ist. Im Check-In oder Check-Out redet man meist über die persönlichen Erfahrungen der Woche, Retros sind eher für die Auseinandersetzung mit der Teamperformance im letzten Sprint gedacht und Regelmeetings, wie der klassische Jour fixe oder das Jahresgespräch, sind sachbezogen und auf die eigenen Leistungen gerichtet.
Du bist noch nicht ganz sattelfest mit den Begriffen des agilen Arbeitens? Dann schau doch mal in das frei zugängliche New Work Glossar der Zeitschrift Neue Narrative. Hier findest du die wichtigsten Begriffe aus der Welt der Neuen Arbeit – so erklärt, dass jede*r sie versteht.
Ein Austausch über Befindlichkeiten und Bedürfnisse innerhalb des Teams wird in den oben genannten Kontexten häufig als störend und fehl am Platz empfunden. Daraus ergibt sich jedoch ein entscheidendes Problem: wir kriegen die Alarmsignale und Verspannungen nicht frühzeitig mit und ignorieren sie auch lange Zeit. Meist schenkt man Unstimmigkeiten im Team erst dann Aufmerksamkeit, wenn sie zum ernsthaften Zerwürfnis herangewachsen sind und versucht dann durch klärende Gespräche oder auch externe Mediation die Lage in den Griff zu bekommen.
Das ist doch eigentlich viel zu spät, dachten wir uns. Und haben uns zum Ziel gesetzt, eine für unseren Arbeitsalltag passende Reflexionsroutine zu entwickeln. Sie sollte nicht zu aufwendig sein, sodass sie mühelos zur Gewohnheit werden kann, und zielgerichtet das Knirschen im Getriebe, aber auch die Dinge, die wirklich gut gelaufen sind, zu Tage fördern. Damit wir die Verspannungen vor dem Feierabend lösen können und den Blick frei haben für die Dinge, die uns reibungslos gelungen sind.
Dabei mussten wir aber nicht von Null beginnen, denn Inspirationen für Reflexionsroutinen habe ich etliche kennengelernt. Ich habe auf persönlicher Ebene schon immer gerne reflektiert. Mich selbst zu meiner Umwelt in Bezug zu setzen und zu überlegen, was gut war und was weniger gut, hilft mir dabei, mich weiterzuentwickeln. Was im Jugendalter mit Tagebuchschreiben begann, habe ich in den letzten Jahren mit dem Achtsamkeitskalender Ein guter Plan fortgesetzt. Der Kalender ist nicht nur zum Verwalten der Termine da, sondern fordert die Nutzer*innen wöchentlich und monatlich dazu auf, inne zu halten und zurück zu blicken. Er stellt kluge Fragen zu Bedürfnissen und deren Erfüllung und gibt kleine Weisheiten mit auf den Weg. Besonders die Fragen zur Selbstreflexion empfand ich als hilfreich und wollte diese daher auch in unsere Reflexionsroutine integrieren.
Die Zeitschrift Neue Narrative – Das Magazin für Neues Arbeiten ist letztes Jahr Teil meines Reflexionskanons geworden. Sie schlägt die Brücke zur Reflexion im Arbeitskontext und hilft dabei, innere Stärken und Bedürfnisse zu erkennen und in das Team einzubringen. Besonders der Beitrag Ein organisationales Betriebssystem zum Selberbauen in Ausgabe Nr. 9 stand Pate für die Strukturierung unserer Jahresreflexion. In einem Rundflug über die Themen Purpose, Rollen & Regeln, Stärken, Strategie, Beziehungspflege, Prozesse, Werte und Prinzipien, Geld und Stakeholder wollen wir uns jeweils am Jahresende Gedanken darüber machen, ob die Absprachen in diesen Bereichen für uns noch stimmen oder wir bei einigen Themen anders denken als im Vorjahr und nachschärfen müssen. Wir haben ebenfalls darauf geachtet, dass die von Neue Narrative beschriebenen drei Ebenen der Führung (Leadership, Management und Coaching, s. Abbildung Reflexion Circle) durch unsere Reflexionsroutine abgedeckt werden.
Das Buch New Work Needs Inner Work von Joana Breidenbach und Bettina Rollow ist ein Arbeitsbuch für Teams, die gerade mitten in einem Transformationsprozess hin zu Selbstorganisation und dezentraler Führung stecken. Und der erste Schritt ist natürlich auch hier die Standortbestimmung durch Reflexion. Im hinteren Teil bietet das Buch sehr viele diskussionsanregende Fragen zu Prinzipien & Werten, Sicherheit, Inspiration sowie Wandel & Wachstum im Team. Diese werden in kleinen Gesprächsrunden und mit der Gesprächstechnik der Dyaden beantwortet (siehe hierzu auch unseren Beitrag Reden ist Silber, Verstehen ist Gold zur Gewaltfreien Kommunikation). Die Fragestellungen, die in unserem Setup als selbstorganisiertes Zweier-Team die relevantesten waren, haben wir zur Verfeinerung der Jahresreflexion verwendet. Wir haben auch einige der Fragen in die monatliche Reflexionsroutine eingestreut, um den eher persönlichen Fragebogen von Ein guter Plan noch um den Aspekt der Teamreflexion zu erweitern. Besonders gefallen hat uns der praxisbezogene Ansatz des Buchs: Nach der Reflexionsphase sollten immer Phasen folgen, in der das Gelernte umgesetzt wird, um die Balance zwischen Rückschau und Tagesgeschäft zu halten.
Während meiner Weiterbildung an der SHIFTSCHOOL durfte ich sogar zwei ganze Reflexionswochenenden in Klöstern verbringen. Im Fokus standen hier vor allem die Teamdynamiken in unserem selbstorganisierten Klassenverband. Denn gerade in hierarchielosen Teams ohne klare Befehlskette, ist der Raum für Reibereien im Arbeitsablauf sehr groß. Ein Reflexionswochenende ist eine Sondersituation, die bewusst außerhalb des Arbeitsalltags liegt, um diesen von außen betrachten zu können (Metareflexion). Der Fokus wird durch den ablenkungsfreien Raum des Klosters noch mehr geschärft und Probleme können sehr fein herauspräpariert werden. Natürlich muss man dafür nicht unbedingt in ein Kloster fahren, für einen Perspektivwechseln reicht es manchmal schon aus, vom Arbeitszimmer in das Wohnzimmer zu wechseln oder auch nur gedanklich Abstand von der konkreten Situation zu nehmen.
Eine weitere Herausforderung kommt jedoch noch nach der Metareflexion: die Lösung der herausgearbeiteten Probleme im Arbeitsalltag, wenn der Fokus wieder auf anderen Dingen liegt. Im schlechtesten Fall sind die Reibungspunkte jetzt zwar allen offenkundig, eine Lösung für diese gibt es jedoch nicht. Für mich eignen sich die Metareflexionsübungen daher gut als Ergänzung zu festen Reflexionsstrukturen im Alltag. Wir haben sie als Teil unserer Clear-the-Air-Meetings zur Lösung von Konflikten eingebaut.
Et voilà, hier ist das Ergebnis, unsere aktuelle Reflexionsroutine. Sie besteht aus den folgenden vier Elementen:
Jahresreflexion: Zeitpunkt Jahresende, Dauer 1-2 Tagesworkshops
Der Fokus liegt hier auf dem Unternehmen und dessen zugrundeliegendem Betriebssystem. Wir überprüfen mittels des Canvases Ein organisationales Betriebssystem zum Selberbauen aus Neue Narrative alle relevanten Bereiche des Betriebs und diskutieren mit Hilfe des Fragenkatalogs aus New Work Needs Inner Work in Dyaden die Bedürfnisse aller Teammitglieder im Bezug auf das Unternehmen – jede*r kommt so zu Wort. Das Ergebnis halten wir zum Abgleich im darauffolgenden Jahr fest. Ziel ist es, die Vision des Unternehmens zu schärfen.
Monatsreflexion: Zeitpunkt Monatsanfang, Dauer 1-2 Stunden
Hier stehen Selbstkontakt und Selbstführung im Fokus. Die Monatsreflexion besteht aus Fragen zur persönlichen Entwicklung aus Ein guter Plan, ergänzt durch einige Fragen zur Teamreflexion aus New Work Needs Inner Work. Wir lassen Erfolge und Reibungsverluste Revue passieren, feiern erreichte Ziele und artikulieren Dankbarkeit. Außerdem ziehen wir bewusst Bilanz zu unserem allgemeinen Befinden (Schlaf, Essen, Sport, Hobbies, Kontakte, Entspannung, Laune) und leiten daraus angestrebte Verhaltensänderungen (neue Habits) ab, die wir im nächsten Monat ausprobieren möchten. Abschließend werfen wir einen Blick auf den nächsten Monat und definieren Fokus und Ziele, bevorstehende Highlights und anstehende Herausforderungen. Die Monatsreflexion dient vor allem der Potenzialentfaltung und dem Wohlbefinden aller Teammitglieder.
Wochenretrospektive: Zeitpunkt Wochenmitte, Dauer 1 Stunde
Die „Retro“ wie man sie aus dem agilen Arbeiten kennt, haben wir etwas erweitert. Wir sprechen jetzt nicht nur über Pains & Gains der letzten Woche und planen die nächste, sondern wir behalten unsere angestrebten neuen Habits aus der Monatsreflexion im Auge und geben uns jeweils noch ein gewaltfrei kommuniziertes Feedback mit auf den Weg. Wir managen in diesem Termin somit zum einen unsere To-Dos. Zum andern möchten wir durch das Habit-Tracking unseren Alltag positiv verändern und das Feedback dient als Seismograf für eventuell schwelende Verstimmungen. Kehren hier Themen regelmäßig wieder, ist es Zeit für diese ein eigenes Clear-the-Air-Meeting anzusetzen.
Clear-the-Air-Meeting: Zeitpunkt nach Bedarf, Dauer 2-3 Stunden
Für die Konfliktbewältigung nutzen wir die Technik der Metareflexion, beispielsweise in Form der Eisbergübung aus New Work Needs Inner Work. Mit dieser kann man die unterschiedlichen Gefühlsebenen angespannter Situationen durchlaufen. Über die in der Situation vorherrschenden Gedanken, Körpergefühle und Emotionen nähert man sich dem darunterliegenden Bedürfnis. Ist dieses erkannt und verbalisiert worden, wird gezielt nach Strategien zur Erfüllung dieses Bedürfnisses gesucht und an der damit einhergehenden Entschärfung der Konfliktsituation gearbeitet. Alternativ kann die Metareflexionsübung „vom Balkon“ genutzt werden: Indem man sich gedanklich auf den Balkon oberhalb der Situation begibt, schafft man Abstand zu dieser. So ist es möglich, Konflikte objektiver zu besprechen.
Unser Reflexion Circle
Für uns hat sich unsere Reflexionsroutine bereits jetzt im Alltag bewährt. Verstimmungen haben ihren Platz, werden nicht mehr unterdrückt oder brechen zum falschen Zeitpunkt hervor. Unser Wohlbefinden bleibt im Fokus, wir beschäftigen uns mit unserer persönlichen Weiterentwicklung und den Zielen als Team. Dabei ist es für uns immer wichtig, dass wir Reflexion nicht als Selbstzweck praktizieren, sondern die Erkenntnisse zu klaren Veränderungen und neuen Ideen im Alltag führen. Sicherlich wird sich unsere Reflexionsroutine im Lauf der Zeit verändern und der Fragenkatalog angepasst werden – das System ist jedoch sehr flexibel und kann mit uns wachsen. Mittlerweile freuen wir uns schon auf die Reflexionstermine und die Zeit für „inner Work“.
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